Freitag, 16. September 2011

Nachmals ein Ankommen

Am selben Dienstag, an dem ich um 4:30 Uhr im Hotel in Delhi aufgeweckt wurde und mich fertig machte zur Abreise, an demselben Dienstag kam ich noch vor Mitternacht in meiner neuen Heimat an. Ich hatte die letzten Stunden im Zug bereits tief geschlafen, wurde aber wachgeklingelt und trat benommen in die Bahnhofshalle, um meine Abholerin zu suchen.
Als sie mich in mein neues Heim brachte, wo ich alle meine Sachen bereits verstaut wähnte und gespannt war, wo man mein Bett wohl aufgestellt hätte, da sah ich neben meinem Auto, dass ich schon vor der Reise hier abgestellt hatte, noch das des bisherigen Pfarrers in der Garage, und gleich darauf auch diesen selbst bei Licht in seiner Küche, wo sich Hausrat in Schachteln türmte. Er schien erstaunt über mein Erscheinen und führte mich ins Gästezimmer, wo ich zwischen Schachtelbergen auf dem Sofa meinen Hüttenschlafsack hervorkramte - nicht ohne das Fenster zu öffnen und die Rollos hinaufzukurbeln, um Luft ins muffige Kämmerlein zu lassen. Lange ärgerte ich mich in den Schlaf und konnte nicht begreifen, woran die lange abgemachte Übersiedlung gescheitert war. Später schreckte ich hoch und blickte mich um: Mir wollte nicht einfallen, wo ich war, umgeben von Gebilden im Fahllicht: In welchem indischen Tempel war ich eingeschlafen?
Zeitig erwachte ich morgens wieder und wartete, bis ich den Übersiedlungsdienst anrufen konnte. Es stellte sich heraus, dass dieser, der Vorbewohner sowie mein Büro jeweils auf den Anruf und die Initiative der anderen gewartet hatten. Ein echt indisches Ende

Samstag, 10. September 2011

Nochmals zum Warten...

Hier der versprochene Beitrag zu den Bahnhöfen. Die Bilder stammen vom Hauptbahnhof in Delhi - und sind vielleicht nicht einmal so repräsentativ: viele "kleinere" Bahnhöfe waren da lebendiger und boten mehr Überraschungen, z.B. tierischer Art...

Aber seht selbst:

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Sonntag, 4. September 2011

Mein Buddhismus

Ahamkara (Sanskrit: अहंकार, ahaṃkāra, seltener auch ahaṅkāra) ist ein Sanskrit-Ausdruck, der sich in der hinduistischen Philosophie auf das Ich-Bewusstsein oder die Ich-Funktion bezieht. Der Begriff besteht aus den Bestandteilen ahaṃ ("ich") und kāra ("machend", von der Wurzel kṛ, "tun"). Er wird mit "Ich-Macher" oder mit "Ego" übersetzt.

Buddhistische Meditationsformen (Vipanassa und Zazen) versuchen, eine nichtwertende Haltung einzuueben, ein absichtsloses Gewahrwerden im Hier und Jetzt. Dem ist es fremd, sich in Spekulationen zu erheben ueber ferne Dinge und Zeiten, fremd auch, in jeder Sache sogleich den Schlussstrich zu ziehen und das Ergebnis zu pruefen und zu beurteilen. Gedanken und Gefuehle sind real, aber nicht der Boden, auf dem die Welt steht. Ohne ihnen anzuhaften, kann ihr Kommen und Gehen beobachtet werden.
Ich nenne das eine Zurueckhaltung gegenueber dem Maschinellen, in dem eines das andere gibt, ein Wort das andere, eine Tat die naechste. Es ist nicht noetig, dass der Mensch wie eines aus dem anderen folgt. Es ist besser, das Getriebe sich selbst zu ueberlassen und stattdessen ueberlegt zu handeln. Hunger will Nahrung, aber der Blick auf die Uhr muss nicht den Eindruck von Hunger erzeugen. Einsamkeit kann Gespraechspartner vermissen, aber pausenloses Plappern wird Einsamkeit nicht verhindern.

Wer ohne an dem Taterfolg zu haengen, die zu tuende Tat ausfuehrt, der uebt Entsagung und Hingabe. (...) Denn wer den Wuenschen nicht entsagt, kann (auch) nicht Hingabe ueben.
Wenn man naemlich weder an den Sinnesobjekten noch an den Taten haengt und allen Wuenschen entsagt hat, wird das als zur Vereinigung emporgestiegen bezeichnet.
(Bhagavadgita VI, 1-4)

Bei Ignatius steht Indifferenz fuer die Freiheit des Glaeubigen, der sich nicht durch ungepruefte Neigungen Gottes Wort verschliessen will. Das ist nicht Gleichgueltigkeit, sondern Gottes Willen hat in allem den Vorrang. Aber das reflexartige Streben des Menschen nach Festigkeit und Sicherheit, nach schnellem Ueberblick und schnellen Taten soll Gottes Willen nicht abdraengen. Der Individualismus des Ignatius will ein freies christliches Subjekt im Ankunftsraum Gottes, fern von Institutionen und Sicherheiten, mit geklaerten Affekten und geordnetem Geist. Deshalb wird fuer Ignatius die Kirche wieder zurueckverwandelt in den Lebensraum Gottes, der in Schrift und Kirche zu seinen Geschoepfen spricht. Sein Engagement in der Gegenreformation hat keine buergerlichen Ziele, sondern die Befreiung des Einzelnen von der Verfallenheit an Affekte und Vorurteile. Seine Lehre der Indifferenz ist entschiedenes Gegenprogramm zur buergerlichen Aufklaerung, naemlich Absage an die Selbstsicherung des Menschen in der Gesellschaft durch Macht, Erfolg und Leistung, Anpassung und unter dem Toleranzmantel zunehmende geistige Beliebigkeit.

„Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht.“
So beschreibt Heidegger das Man, als das Unpersoenliche im Menschen, dem sich derjenige, der sein Da-sein als Veraeltnis zum Sein nicht zu uebernehmen bereit ist, unterwirft. „Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung nennen wollen“. (SuZ 127)
Er nennt das ein Leben in Uneigentlichkeit, denn jeder ist, obgleich er sich fuer einzigartig haelt, immer der Andere.
Heideggers Buddhismus kommt wohl am ehesten in seiner Untersuchung der Befindlichkeit zum Ausdruck. Mehr als durch Erkennen und Verstehen befindet sich der Mensch in seiner Welt, wenn uns die Dinge etwas angehen und uns zu Antwort und Reflexion herausfordern. In der Zeitlichkeit des Daseins ist alles Kontingente in einen Horizont gestellt. Das Verhaeltnis, welches das Dasein zu sich selbst und seiner Welt aufbaut, ist immer auch eine Stellungnahme zu seinem Tod, der Grenze des Entscheidens. In Heideggers Bild vom Werden und Vergehen ist jedoch das Sein etwas Bleibendes, dem Menschen Uebergeordnetes - obwohl gerade nicht etwas, nicht Substanz, eher Nichts als Etwas. Kann man sagen, Sein existiert?

Kierkegaard sieht das Selbstverhaeltnis des Menschen jeweils in einem bestimmten Verhaeltnis zu Gott. Selbstsein heisst, Geschoepfsein und Begnadetsein, heisst, seine Zeitlichkeit auf Gott hinzuordnen. Diese Hinordnung auf Gott jedoch nicht zu vollziehen, heisst, sein Geschoepfsein zu verweigern. Kierkegaard nennt es, aus Trotz nicht man selbst sein zu wollen, bzw. aus Schwaeche man selbst sein zu wollen. Beides seien Formen der Verzweiflung, sei ein Anrennen des Menschen an den Barrikaden und Vorurteilen, sei ein Verzetteln in Auesserlichkeiten, ein Festfahren im Ausweglosen. Krankheit zum Tode nennt er diese existenzielle Situation, die Gott negiert oder sich an Substitutionen haelt. Religioese Denker wie Gluecksuchende, Tatmenschen wie Unentschiedene versagen allesamt beim versuchten Zugriff auf das Selbst, wenn sie es nicht von Gott aus tun. Dieses Ohne-Gott-sein-Wollen ist nichts anderes als Suende, und die Antwort auf diese Verlorenheit des Menschen ist Glaube an Gott, der nicht Aergernis nimmt an ihm.
Kierkegaard hat mit seiner Kritik die protestantische daenische Staatskirche im Blick, und er geisselt die selbstzufriedenen Pastoren, die in Sonntagsreden das Evangelium glaetten und mit aesthetischen und moralischen Auslegungen zwar Bewunderung und Anerkennung finden, dabei aber geflissentlich das Christentum abschaffen. Aber dieses uneigentliche Christentum ist schlicht ein buergerliches, ein zur eigenen moralischen Selbstbestaetigung des Buergertums umgedichtetes. Ansehen und Sicherheit, Leistung und Anpassung, Herrschaft und Kontrolle sind buergerliche Werte, nicht christliche.

Kierkegaards Begriff vom Selbst ist nicht psychologisch im modernen Sinn, denn seit William James stellt man dem in der Reflexion erkennenden Selbst ein erkanntes gegenueber, und durch Selbst- und Fremdbeobachtung wuerde nach und nach, dem Selbstkonzept entsprechend, ein Ich entstehen. Dieser Konstruktivismus bildet gerade das aus, was Ignatius mit ungewollter Abhaengigkeit, Heidegger mit dem Man, Kierkegaard mit der Verzweiflung, und die buddhistische Anatta-Lehre mit dem Nicht-Selbst gemeint hat.

Im Labyrinth von Varanasi

Es hat so begonnen, dass Sandro von einem bestimten Restaurant gehoert hatte, und wir dort an unserem letzten Tag in dieser Stadt essen wollten. Als wir in die Motorrikscha stiegen, begann der Regen herunterzuprasseln, die Strassen leerten sich. Der Fahrer verschloss sorgsam den Einstieg zur Sitzbank und fuhr unverdrossen weiter. Aber das letzte Stueck des Weges verlief durch eine Fussgaengerzone, da mussten wir laufen. Die Verkaeufer hatten gelassen Planen ueber ihre Staende gezogen, die Kaeufer wateten durchs Wasser, hielten einen Schirm oder und zogen die Dupatta fester ueber den Kopf. Ich versuchte, ueber die Pfuetzen zu springen, aber als sich Stroeme aus den Seitengassen ergossen, watete ich mit den Sandalen bis zu den Knoecheln in der braunen Schwemme. Nach vielem Fragen gerieten wir in die Seitengassen der Seitengassen, der Weg veraestelte sich immer weiter, die Gaenge schienen den Atem einzuschnueren. Schliesslich fanden wir selbst die Spur und konnten nun Schildern folgen, an kleinen Tempeln vorbei, dann stand eine Kuh in der Gasse, es spielten Kinder, es sass ein blinder Bettler im Schlamm, zuweilem mussten wir ueber Stufen steigen, immer wieder scharf abbiegen, uns der Einladungen erwehren, zum Haareschneiden, Seide kaufen, einen Stadtfuehrer engagieren, einen Bootsausflug zu machen. Zum Restaurant mussten wir fuenf Stockwerke hochsteigen und sassen dann auf einer ueberdachten Terrasse, hoch ueber dem Ganges.

Als wir nach der langen Essenspause wieder einigermassen trocken waren und nochmals ins Labyrinth stiegen, wurden wir auf eine Verbrennung an einem Ghat aufmerksam gemacht. Und wieder ging es durch winzige Gassen, an Kapellen und Latrinen vorbei, an Wasserhaehnen, wo Menschen ihre Flaschen auffuellten, manchmal an Verkaufsstaenden, zuweilen stand eine Tuer offen und liess den Blick in den Hof ein, oder in ein Wohnzimer, wo im Halbdunkel drei Tanten sassen und dem Grossvater die Fingernaegel schnitten. Und als sich der Blick zu oeffnen begann und die Hauswaende auseinandertraten, da schlug uns beissender Rauch entgegen. Grosse Mengen Holz waren aufgeschichtet neben dem Fluss, und da Hochwasser war und die Stufen ueberflutet, draengte sich alles zusammen am Ufer, und einige waren in ein Haus gestiegen und wohnten der Zeremonie wie von einer Galerie aus bei. Grosse Aufregung herrschte, je naeher ich dem Feuer kam - ich wurde geduldet, durfte aber das Feuer nicht fotographieren. Hinter einer Mauer wurde ganz nah am Fluss ein Leichnam verbrannt, und die Stadt wartete darauf, die Asche in den Fluss zu streuen. Die Familienangehoerigen umkreisten die Feuerstelle und stocherten darin herum, der Sohn sollte die Hirnschale aufknacken, damit die Seele entweichen konnte.

Wir aber entwichen durch das enge Gassengewirr, durchstreiften Rauch und Pissegestank, schuettelten den Tod ab und Schlamm und Rinderkot und traten schliesslich, frei aufatmend, auf die Strasse hinaus.

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Freitag, 2. September 2011

Die Erleuchtung

Bodhgaya ist der Ort, an dem Siddharta, nach langem Suchen und Aufbrechen, schliesslich, unter einem Bodhi-Baum meditierend, die Erleuchtung fand und der Buddha wurde. Der Mahabodhi-Tempel markiert jenen Ort und bietet Ruhe und Stille zur persoenlichen Andacht. Die vielen Tempel und Herbergen rundum aber dienen den Pilgern aus vielen Laendern und stehen also fuer den Aufbruch und das Unterwegssein. Erkenntnis und Weisheit sind also weniger vom Schreibtisch aus, und schon gar nicht von einem Leben in Alltagsgeschaeften zu erwarten, sondern benoetigen ein Unterwegssein mit der ganzen Existenz.
Vielleicht koennte unser Reisen dafuer auch ein Bild geben, fuer das doch Anstrengung und Selbstueberwindung immer wieder gefordert sind. Andererseits geht unser diskursives Denken, mit dem wir uns auf Begegnungen vorbereiten und Erfahrungen reflektieren, doch immer in das Viele und Verschiedene, und nicht in die Einheit. Unsere Kultur sucht die Trennung und Unterscheidung, sei es zwischen Voelkern und Religionen, sei es zwischen den einzelnen Menschen, oder auch zwischen Mensch und Gott - ja sogar innerhalb Gottes. Einheit erwarten wir hoechstens von augenblickhaften Vereinigungen zwischen Liebenden oder mystisch zwischen Mensch und Gott. Aber das sind Ereignisse, keine Lebensziele oder Prinzipien.

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Die Ghats von Varanasi

Neben den Tempeln und den vielen Andachtsbildern, die wie Kapellen ueberall an den Strassen stehen, ziehen die Ghats pausenlos Glaeubige an. Mehr als anderswo sind am Ufer des Ganges Glauben und Leben eins, und rituelle Waschungen, nachdenkliche Pausen, Geplauder mit den Nachbarinnen, Opferhandlungen und Verkaufsstaende fuer Opfergaben, Bettler und Strassenmusiker, Kinder und Asketen draengen sich in den schmalen Gassen, umsomehr, als der hohe Wasserstand die Stufen verkuerzt hat.

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Donnerstag, 1. September 2011

Ueber den unbeschreiblichen Strassenverkehr in Indien

Waehrend in der Stadt alle Strassenbenuetzer gleichberechtigt erscheinen, also Fussgaenger, Rad- und Motorradfahrer, Rickschafahrer mit Rad oder Motor, Autos, Lastwagen, Autobusse, Ziegen, Rinder, Hunde - so ist auf der Autobahn eine klare Hierarchie erkennbar. Das Feld beherrschen eindeutig LKWs, zumeist TATA-Fabrikats, in russischer Zweimeterspurbreite, sehr oft auch mit meterhohem Aufbau. Auf der Stossstange steht 40 km, und das wird auch selten ueberschritten. In langen Reihen oder einzeln sind sie bevorzugt in der Strassenmitte unterwegs, wenn die langsame Spur von parkenden Autos, Mopeds oder Gegenverkehr benutzt ist, oder auch sonst, auf der schnellen Spur. Als PKW-Fahrer naehert man sich ihnen standesgemaess folgendermassen: 1. Annaeherung bis auf Hoerabstand, 2. Vorentscheidung, auf welcher Seite ueberholt werden soll, 3. laute Hupsignale, und auf die Reaktion warten, 4. ein allmaehliches Abdrehen des LKW auf eine Seite zum Ueberholen nutzen, dabei aber weitere auftretende Hindernisse im Auge behalten, wie Unterbrechungen des Fahrbahnbelags, Fussgaenger oder Tiere auf der Fahrbahn. Indische Fahrer benoetigen dabei selten mehr als 2000 Motorumdrehungen, vorzugsweise bei 50 im fuenften Gang. Auf entgegenkommende LKWs reagiert man gelassen, grundsaetzlich werden die Richtungsfahrbahnen schon eingehalten. (Um den kontinentaleuropaeischen Leser nicht zu verwirren, gehe ich erst gar nicht auf den vorherrschenden Linksverkehr ein)

Besondere Ereignisse auf der Autobahn sind von Parkplaetzen auf die Fahrbahn zurueckstossende Lastwagen, zuweilen auch mit Anhaenger - wobei in der Regel eine Aufsichtsperson hinter dem Fahrzeug in die Fahrbahnmitte hineingeht und den Fahrer einweist, sowie Blickkontakt mit den herannahenden Strassenbenbuetzern haelt. Schwer zu sagen ist es, ob Rinder, die auf dem Gruenstreifen zwischen den Fahrbahnen weiden und sich anderer Wiesen erinnern, oder Frauen, die mit auf dem Kopf meterhoch aufgetuermtem Heu, das ueber die Augen herabhaengt, die Fahrbahn queren, leichter einzuschaetzen sind.

Was ich heute noch auf der Autobahn gesehen habe: Einen invaliden Dreiradfahrer, der mit den Haenden kurbelte. Einen Soldaten, der seiner vom Wind verblasenen Zigarettenschachtel minutenlang ueber alle Fahrspuren nachjagte, bis alle Herankommenden zum Stillstand kamen. Arbeiter, die Reifen wechselten am LKW, der auf der langsamen Spur abgestellt war, und zwar immer so, dass sie sich auf der schnellen Spur ausbreiteten. Einen Hund, der nach einigem Zickzack in unser Auto hineinlief, von der Stossstange hinuntergeworfen wurde, hinter uns einige Purzelbaeume schlug, aber dann wieder von der Fahrbahn taumelte. Uebrigens liegen immer wieder Hundekadaver halbverwest mitten auf der Fahrbahn.

Grundsaetzlich sollte gesagt werden, dass der Verkehr auf gaenzlich anderen Prinzipien beruht wie bei uns. Jeder Teilnehmer ist vorhanden und hat somit Existenzrecht. Das bedeutet, dass der Blick nach vorn geht, zu den anderen sichtbar vorhandenen Teilnehmern, die einem vorgesetzt sind. Wer nachkommt, muss fuer sich selbst sorgen. Richtungsaenderungen sind jederzeit noetig, damit wird vom Nachkommenden gerechnet. Dabei verlaesst man sich eher auf Handzeichen als auf Blinklichter, denn Elektronik kann bekanntlich leicht irren. Hierin ist der indische Verkehr dem europaeischen schon weit voraus, der sich allerdings in dieselbe Richtung bewegt. Ich rechne mit der baldigen Auflassung der gelben Blinkzeichen.

Im dichten Stadtverkehr ist bedeutsam, dass die ueberragenden Hecks von LKWs und Autobussen fast immer in der Hoehe der Windschutzscheibe der PKWs sind, wodurch man sich bei beengten Verhaeltnissen ein wenig unterschieben kann. Das ist jedoch nur dort zu empfehlen, wo keine tiefen Schlagloecher zu erwarten sind. Die behendesten Fahrer sind nach unserer bisherigen Erfahrung eindeutig die Motorrickschafahrer. Das dreiraedrige Fahrzeug erinnert an das Autodrom im Prater, hat einen aehnlichen Einschlag, aber viel bessere Beschleunigung. Gewoehnliche PKWs werden trotz Gegenverkehrs ueberholt, weil meist der Entgegenkommende im letzten Moment ausweicht oder sich eine andere Loesung auftut. Hier ist der umfassende Spurenwechsel sehr beliebt, hat dabei aber ernste Konkurrenz von Fahrraedern und Motorraedern. Bei Sandro ist dieses oekonomische Verkehrsmittel jedoch weniger beliebt, und ich habe Anzeichen von Uebelkeit bei ihm bemerkt, die nichts mit der Ernaehrung zu tun hat. Deshalb werden wir morgen wieder die Eisenbahn benutzen.


Seht euch mal das an!

http://www.youtube.com/watch?v=uyPsLOevmng&feature=mfu_in_order&list=UL

Mittwoch, 31. August 2011

Erste Begegnung mit dem Heiligen

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Der neue Vishwanath-Tempel liegt am Campus der Hindu-Universitaet von Varanasi, ein schattiger Park, der Luft zum Atmen gibt. Neben dem Haupttempel steht wie ein Pavillon auf Stufen ein anderer Tempel, und in seiner Mitte ein Brandopferaltar. Ich sehe, das sich eine Zeremonie anbahnt, und werde auch herangewinkt und begruesst. Die Priester treffen ein, legen ihre Gewaender an und richten ihre Utensilien her, plaudernd und scherzend wie in der Sakristei. Es formiert sich eine Sitzordnung neben dem Altar, und seitlich an einem geschmueckten Heiligtum, das aus einer Messingglocke besteht. Unter Gesaengen, die litaneiartige Rezitationen sind, praesentiert der Hauptzelebrant nach und nach alle Opfergaben und ordnet sie um die Glocke an. Waehrend sich Priester sehr auf den Text konzentrieren und manche Muehe zu haben scheinen, holt sich der Zelebrant immer wieder Anweisungen von einem seitlich stehenden Zeremonienmeister, der auf einem Zettel Ablauf und Sitzordnung kontrolliert und manches Stichwort gibt. Neben ihm steht ein weiterer Mann mit einer Nicon-Spiegelreflexkamera, und auch er wirft zuweilen Kommentare ein, worauf der Priester eine Handlung wiederholt, damit sie gut ins Bild kommt - wovon ich auch profitiere.
Schliesslich, als die Gabensegnung beendet ist, beginnt der Mesner im Altar Rinden- und Holzstuecke aufzuschichten sowie Palmblaetter mit Nuessen rundherum zu verteilen. Die Priester nehmen um den Altar Platz, der Oberpriester spricht unter Gesaengen Gebete, giesst fluessige Butter ins Feuer und uebergibt die Weihegaben dem Feuer. Dann streuen auch die rundum Sitzenden ihre Gaben hinein. Schliesslich kommt das Schlussgebet, und alle verneigen sich und springen auf.
Wenn sie waehrend der Zeremonie durchaus registrierten, wie ich filmte und fotographierte, und, wenn ich einen im Visier hatte, sich darueber belustigten, so draengen sie sich nun zusammen und halten scheu Abstand von mir. Immerhin reicht man mir als erstem von den uebrigen Opfergaben, einen Opferkuchen und eine Banane. Doch als mich einige spaeter mit dem Fahrrad oder Motorrad in der Allee am Heimweg ueberholen, gruessen sie freundlich.

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Der Eintritt in den Durga-Tempel, den ich spaeter besuchte, verlief ganz anders. ich fand das leuchtend rote Heiligtum neben staubigen und belebten Strassen. Gleich im Portal, nachdem ich die Schuhe ausgezogen hatte, wurde ich mit dem roten Punkt gesegnet, und man fragte nach meinen Opfergaben. In den Hof tretend, sah ich das Gottesbild von goldenen und silbernen Strahlenkraenzen umgeben, und Glaeubige warfen sich davor nieder. Bald wurde ich zum Shiva-Schrein geschoben, wo mir Segen versprochen wurde. Es war nicht nur diese Vereinnahmung, die mich zoegern liess, sondern noch mehr die vielen Fliegen und Wespen, die um die am Boden liegenden Obstreste kreisten. Von da an sah ich in der ganzen Stadt die Fliegen.

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Unser Hotel liegt gleich neben dem Assi-Ghat, wo Scharen von Menschen an Reinigungszeremonien teilnehmen und sich rituell im Ganges waschen. Ich selbst bedurfte jedoch keiner Waschung mehr, denn das priesterliche Segensmal auf meiner Stirn stellte mich in eine andere Kategorie.

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Vishnus Tod

Ein Buch der Bosheit.
Bosheit unter den Bewohnern des Hauses in Bombay, deren Hausgehilfe, der ihnen Botengaenge und Einkaeufe erledigt, am unteren Treppenabsatz wohnt und schlaeft.
Bosheit zwischen den beiden Hindu-Familien, den Asranis und den Pathaks, die eine Kueche miteinander teilen muessen, und auch innerhalb der Familien.
Bosheit zwischen dem ersten Stock und den muslimischen Jalals im zweiten, die sich zu Gewalttaetigkeiten aufschaukelt.
Was wie Liebe und Vereinigung des Verschiedenen anfaengt, die Liebesbeziehung ihrer Kinder Kavita und Salim, das entpuppt sich bald als dramatische Selbstinszenierung nach Vorbildern indischer Bollywood-Filme, und muendet wieder in Bosheit.
Was wie wiedererwachte Liebe zwischen den alten Jalals aussieht, wenn sie naeher zusammenruecken und einander zuzuhoeren scheinen, das zeigt doch umsomehr ihre Selbstsucht, denn sie versteigen sich jeweils in ihrer Welt und geben einander ungeruehrt preis. Bis in die kleinsten Alltagsereignisse wird das Kalkuel sichtbar, wo jeder den andern ausbeuten will und auf Kosten anderer sich selbst steigern.
Ueber den sterbenden Vishnu steigen sie hinweg, und bilden so das Kastensystem ab, in dem nur der Tod einen Aufstieg zulaesst.

Wenn Kalkuel im Zentrum der Begegnungen steht, dann erscheint es ueberfluessig, mit Hungerstreiks wie dieser Tage in Delhi gegen Korruption auf Regierungsebene zu demonstrieren - denn Korruption blueht in den Herzen aller, die nicht von sich selbst wegkommen und den anderen gebrauchen. Der hinduistische Weg der Selbsterkenntnis bedarf wie in allen anderen Kulturen und Religionen der Unterscheidung zwischen Selbsttaeuschung und Wahrheit. Eine Kritik an der buergerlichen Doppelmoral, welche die Religion an ihren Karren spannt.

Dienstag, 30. August 2011

Schauspiel

Die neun Stunden, die uns nach unserem naechtlichen Ausflug in die erste Klasse bleiben, in denen wir uns immer wieder von einer auf die andere Seite setzen und das von der schwuelen Luft klebrige Gewand zurechtzupfen, bekommen wir ein nie endendes Schauspiel vorgefuehrt. Wie auf einer Laufbuehne erscheinen, jeweils von ihrer eigenen Sprechmusik angekuendigt, die unwahrscheinlichsten Sagengestalten und praesentieren ihre Schaetze.
An uns ziehen vorbei eine geschulterte Kiste mit Wasserflaschen,
ein Blechkuebel mit Bohnengemuese, in dem eine Blechschaufel steckt, wie ich sie daheim zum Ascheschaufeln verwende,
ein Tablett mit frisch gehackten Zwiebeln und Chillischoten,
geschaelte, geschnittene und gesalzene Salatgurken,
gebackene Plaetzchen,
Plastikkanister mit gesuesstem Milchtee,
Gemueseleibchen in Zeitungspapier,
ein Eimer mit Nuessen
und unzaehlige andere Koestlichkeiten, die ich nicht erkannt oder gar nicht gesehen habe; dazwischen aber auch Maenner mit Plastikspielzeug, das in einem grossen Nylonsack ueber dem Ruecken getragen wird,
mit Handysteckern, Werkzeug, Kugelschreibern, Wollschals,
einer trug eine bunt bedruckte Plastikplane, breitete sie aus und erklaerte ihre Vorteile,
einer erbot sich, die Schuhe zu putzen.
Ein Mann ohne Beine robbte, auf die Faeuste gestuetzt, durch den Gang und sah einen nach dem andern stumm und ernst an.

(Sandro hat sich brav an meine Warnung vor offenen Speisen gehalten, ich habe zum Fruehstueck einen staniolverpackten Gummitoast mit Omlette gegessen und zu Mittag einen gezuckerten Milchkaffee getrunken.)

Aber das wirkliche Indien kann man an den Bahnhoefen studieren. Darueber ein andermal.

Sonntag, 28. August 2011

Ramakrishna

Kannst du für Gott weinen mit intensivem Verlangen? Die Leute vergießen eimerweise Tränen für Kinder, Partner, Geld usw., doch wer weint für Gott? Solange das Kind mit seinen Spielsachen beschäftigt ist, befasst sich die Mutter mit Kochen und Haushaltsarbeit. Wenn das Kind jedoch keine Lust mehr auf seine Spielsachen hat, sie wegwirft und laut nach der Mutter weint, kann sie nicht länger in der Küche bleiben. Sie nimmt den Kochtopf vom Feuer und rennt schnell zum Kind, um es in die Arme zu nehmen.


Niemand kann mit letzter Gewissheit sagen, das Gott nur „so“ ist und nicht anders. Er ist formlos und andererseits hat er Formen. Für den Bhakta nimmt er Formen an — für den Jnani ist er ohne Form .
Brahman, absolutes Sein-Bewusstsein-Seligkeit, ist wie ein uferloser Ozean. Im Ozean entstehen bei starker Kälte hier und da Einsschollen. Ähnlich nimmt das Unendliche endliche Formen an, sozusagen unter dem kühlenden Einfuss der Hingabe des Gottesverehrers, und erscheint vor ihm als göttliche Person. Doch wie beim Aufgehen der Sonne die Eisschollen im Ozean schmilzen, so geht mit dem Erwachen von Jnana die verkörperte Gottesform in das unendliche und formlose Brahman auf. Dann hat der Verehrer nicht mehr das Gefühl dass Gott eine Person ist, noch hat er dann Visionen von Gottes Formen.
Doch vergiss nicht: Form und Formlosigkeit gehören ein und derselben Wirklichkeit an.

Svami Vivekananda

eigentlich Narendranath Datta (1863 – 1902)

Indischer Mystiker, der ein Schüler Ramakrishnas war: 1897 gründete er die »Ramakrishna-Mission«. Vivekananda verbindet den Glauben an einen persönlichen Gott mit dem an den unpersönlichen Gott, dem er selbst als Advaitist mehr zuneigt. Wohl sei, so etwa sagt er gelegentlich, das Sich-Verlassen auf Gott wunderbar und für viele Menschen ein Bedürfnis, aber, so meint er, das Ziel der meisten Menschen wird die große Erkenntnis der eigenen Verantwortung und Kraft sein, die im Gedanken des Unpersönlichen liegt: »Welche Kraftquelle ist die Vorstellung des unpersönlichen Gottes. Ist aller Aberglaube über Bord geworfen und steht der Mensch auf eigenen Füßen, in der Erkenntnis, daß er das unpersönliche Sein der Welt ist, was kann ihn da noch schrecken? ... Der Tod ist ihm Spiel. Er steht im Glanze der eigenen Seele, des Unendlichen, Geburtlosen, Zeitlosen, Unvergänglichen. « Als Weg zu dem vergeistigten höheren Leben, das Vivekananda anstrebt, erscheint ihm — wie er meint, im Einklang mit der Forderung Christi, erst das Reich Gottes zu erstreben, dann werde alles andere dem Menschen zufallen — die in der Selbstversenkung vollzogene Verbindung mit Gott. »Alles kommt zu dem, der sich um nichts sorgt«
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