im vorhinein

Bombays Kultur bestand aus Imitationen. Seine Architektur imitierte Wolkenkratzer, sein Kino erfand "Die glorreichen Sieben" und "Love Story" unablässig neu, wobei es seinen Helden zur Auflage machte, mindestens ein Dorf vor mordlustigen Banden zu retten, und all seine Heldinnen verpflichtete, mindestens einmal in ihrer Laufbahn an Leukämie zu sterben, vorzugsweise gleich zu Beginn. Auch seine Millionäre waren dazu übergegangen, ihr Leben zu importieren.

Ein Waffenskandal tobte; hatte die indische Regierung Provisionen an Mittelsmänner gezahlt und dann die Sache vertuscht? Riesige Geldsummen waren im Spiel, die Glaubwürdigkeit der Premierministerin war erschüttert, doch all das kümmerte Chmcha nicht. Er starrte auf ein verschwommenes Foto mit schwer erkennbaren, aufgedunsenen Gestalten, die in großer Zahl flussabwärts trieben. In einer nordindischen Stadt hatte ein Massaker an Moslems stattgefunden, die Leichen waren ins Wasser gekippt worden, wo sie die Fürsorge eines Gevatter Hexam des zwanzigsten Jahrhunderts erwartete.

"Öffnet das Haus", befahl Changez an jenem Morgen. "Ich will hier lächelnde Gesichter sehen, nicht immer nur eure trüben Visagen." Und so kamen nach langer Zeit wieder Menschen; junge und alte, Vettern, Onkel, Tanten ein paar Kameraden aus den alten Tagen der Nationalistenbewegung, stocksteife Herren mit silbergrauem Haar, Achkan-Mantel und Monokel, Angestellte der verschiedenen Stiftungen und philantropischen Unternehmungen, die Changez vor Jahren ins Leben gerufen hatte, konkurrierende Hersteller von Pflanzenschutzmitteln und Kunstdünger. Ein wahres Sammelsurium, dachte Salahuddin, staunte aber auch, wie wunderbar sich alle in Gegenwart des Sterbenden verhielten: Die Jungen erzählten ihm vertraulich aus ihrem Leben, als wollten sie ihn versichern, dass das Leben selbst unbesiegbar sei, und ihm den tiefen Trost anbieten, ein Mitglied der großen Prozession der menschlichen Rasse zu sein, während die Alten die Vergangenheit beschworen, damit er wisse, das nichts vergessen, nichts verloren war, dass er trotz der Jahre der selbstgewählten Einsiedelei gleichwohl mit der Welt verbunden war. Der Tod holt das Beste aus den Menschen heraus


Salman Rushdie, Die satanischen Verse



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